Dieses Zitat meines Lieblingsaufwachmediziners Stefan Hiene ist eines von so vielen, die mich im Herzen erreichen. Aber dieses hat es zusätzlich geschafft, dass ich meine Gedanken und Gefühle mal wieder mit dir teilen möchte. Wenn du jetzt die Vorstellung haben solltest, dass es kürzer wird als sonst, dann muss ich dich enttäuschen. Ganz im Gegenteil.
Du musst wissen, wenn ich eines gut kann (außer lange Texte verfassen) dann ist es mir etwas vorzustellen. Und daran ist auch erst mal nichts falsch. Jeder Handlung, jedem schöpferischen Akt ist eine Vorstellung vorausgegangen. Wir können nur das erreichen, was wir uns auch vorstellen können oder anders gesagt, wenn du es dir vorstellen kannst, dann ist es auch möglich. Ohne unsere Vorstellungskraft, in Verbindung mit dem dazugehörigen Gefühl, wäre die Manifestation dessen was wir erreichen wollen, was wir uns wünschen, nicht möglich. Um diese Vorstellungen, die uns Flügel verleihen und durch die wir uns entfalten können, geht es mir hier nicht.
Es geht um die Vorstellungen die wir alle nur zu gut kennen und mit denen wir tagtäglich in Kontakt kommen. Die Vorstellung wie etwas oder jemand zu sein hat, die Vorstellung wann etwas gut oder schlecht ist, wann etwas gesund oder krank macht. Die Vorstellung wie der Tag zu verlaufen hat, damit wir ihn als gut bezeichnen können, die Vorstellung wie sich unsere Mitmenschen insbesondere unsere Freunde, die Kinder, der Partner zu verhalten haben, damit es uns damit gut gehen kann und wir im besten Falle auch noch glücklich dabei sind. Wir gehen die ganze Zeit, von morgens bis abends, mit Vorstellungen durchs Leben. Wenn ich hier von Vorstellungen spreche, dann möchte ich das gern mit Erwartungen gleichsetzen.
Ich bin dabei absolut keine Ausnahme, nur weil ich es mir mehr und mehr bewusst mache. Ich weiß nicht wie es dir geht, aber ich glaube ich bin lange Zeit dem unbewussten Irrglauben aufgesessen, dass diese Art von Vorstellungen oder Erwartungen Sicherheit und Halt geben, eine Richtlinie darstellen und ich so besser beurteilen kann, ob etwas für mich gut oder schlecht ist und ich mich dann dadurch leichter neu ausrichten kann. Aber wer oder was hat denn diese Vorstellung, wo kommt diese her, wer hat sie erschaffen und wie kann ich wissen, dass meine Vorstellung von was auch immer richtig und wahr ist?
Meine Vorstellung entspringt meinem Verstand, meinem Ego und ist von unzähligen Faktoren geprägt: Erziehung, Konditionierung, Glaubenssätzen, kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse, einfach alle gemachten Erfahrungen meines Lebens. Auch wenn wir alle irgendwie ähnliche Erfahrungen gemacht haben und geprägt wurden, letztendlich sind unsere Erfahrungen so individuell und einzigartig wie wir selbst. Und genauso individuell sind unsere Vorstellungen, und somit auch das, was wir erwarten. Meine Vorstellung von richtig und falsch ist deshalb noch lange nicht deine. Aber welche ist wahr?
Was wäre, wenn weder meine noch deine wahr ist? Welche Gewichtung hat unsere Vorstellung, wenn sie das Resultat unserer Erfahrungen, Muster und unserer Strategien, welche wir uns im Laufe unseres Lebens zugelegt haben, ist? Wie würde unsere Erwartung aussehen, wenn wir andere Erfahrungen gemacht hätten? Mit Sicherheit ganz anders und dennoch würden wir sie wohl auch als wahr betrachten. Demnach kann alles wahr sein oder auch alles falsch. Demnach gibt es kein Richtig oder Falsch. Es ist immer die Betrachtungsweise und diese ist bei den meisten von uns eine unbewusste, basierend auf unseren Prägungen.
Solange ich mir dessen nicht bewusst bin, solange ich glaube meine Vorstellung ist richtig, solange ich meine Vorstellung als Maßstab nehme wie das Leben laufen sollte, damit ich es als gut empfinden und mich glücklich fühlen kann, genauso lange bin ich in ihnen gefangen. Denn ich bin nicht in der Lage, andere Möglichkeiten zuzulassen und grenze mich und andere damit ein. Ich bin nicht im Vertrauen und anstatt mich dem Leben hinzugeben, kontrolliere ich mich und andere. Ich bin seit einiger Zeit dabei, mich aus meinen Vorstellungen zu befreien und ganz besonders in den letzten Monaten ist mir aufgrund meiner erfahrenen Gefühle einiges bewusst geworden.
Unsere Erwartungen führen glaube ich automatisch immer dazu, dass wir ins Bewerten kommen. Sind wir uns dessen nicht bewusst, können wir uns dagegen kaum wehren. Schließlich dienen uns unsere Vorstellungen ja dem Zweck, dass wir anhand ihrer abgleichen können, ob Situationen oder Menschen dem entsprechen, was wir für uns als richtig definieren. Und so sind wir die ganze Zeit dabei, alles um uns herum zu bewerten. Und als ob das allein nicht schon beschränkend genug wäre, fangen wir dann natürlich konsequenterweise auch an, all das was nicht unseren Vorstellungen entspricht, anders haben zu wollen als es ist. Weil wir glauben, dass es nur so gut sein kann und wir nur so glücklich und zufrieden sein können.
Was es uns so schwer macht, unsere eigenen Bewertungen zu erkennen, ist, dass wir es als normal empfinden, weil wir es nicht anders kennengelernt haben. Wir werden bereits in eine durch und durch bewertende Gesellschaft hineingeboren wo feste Vorstellungen existieren, von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Auffällig oder Unauffällig, Normal und Unnormal. Während mein Programm mir gerade den Korrekturvorschlag für unnormal mit anormal vorgibt und ich verunsichert recherchiere, ob es das Wort wirklich so nicht gibt, bin ich erschrocken wie viele Ausdrucksformen das deutsche Wortgut hergibt für Zustände oder Menschen, die nicht der Norm entsprechen. Neben unnormal wird auch noch unterschieden zwischen abnorm, anomal und anormal. Ist das alles noch normal frage ich mich da?
Ja, wir sind die ganze Zeit am Bewerten und beurteilen. So wie wir selbst unser ganzes Leben lang bewertet und beurteilt wurden und immer noch werden. Und das geht nicht erst mit der Geburt los. Schon im Mutterleib beurteilt der Arzt, ob wir auch groß und schwer genug sind, ob wir uns der Norm entsprechend entwickeln. Dann kommen wir auf die Welt, bekommen als erstes einen Klaps auf den Po und es wird beurteilt wie wir uns verhalten bzw. wie wir aussehen bei dem sogenannten APGAR-Test. Wenn wir alles richtig gemacht haben, erhalten wir max. 10 Punkte. Ich möchte damit nicht sagen, dass es falsch ist zu schauen, ob es dem Neugeborenen gut geht. Aber brauchen wir dafür ein Überprüfungssystem? Müssen wir dafür Punkte vergeben, die dokumentieren wie „normal“ wir das Licht der Welt erblickt haben? Reicht da nicht ein gesunder Menschenverstand, gepaart mit dem richtigen Bauchgefühl, den Erfahrungen und dem medizinischen Blick aus?
Die Bewertungen, die uns am meisten schmerzen sind wohl die, die wir von unseren Bezugspersonen bekommen, in den meisten Fällen von Mutter und Vater. Wenn wir noch kleine süße Babys sind, bekommen wir es noch nicht so bewusst mit. Da präsentieren sich die stolzen Eltern gegenseitig ihre kleinen Lieblinge. Da wird so oft verglichen, bewertet und geurteilt (besonders auch unter den Geschwistern) über die Entwicklung, über das was der eine doch schon können müsste und wie viel schöner, entspannter oder einfacher es doch wäre, wenn der andere doch endlich schon dieses oder jenes könnte. Auch ich bin, seitdem ich vor über 8 Jahren zum ersten Mal Mutter geworden bin, nicht frei davon, das ein oder andere anders haben zu wollen, als es ist. Auch ich habe bewertet und verglichen und tue es sicher immer noch (ich hoffe allerdings nicht mehr so stark). So verständlich das auch alles ist, so finde ich es gerade auch sehr befreiend, zu erkennen wie vielen Bewertungen, Beurteilungen und sicher auch Verurteilungen ich selbst unterworfen war, es auch zum Teil immer noch bin und wie viel ich mich selbst meiner Bewertungen und Vorstellungen bediene.
Wenn wir dann älter sind, aktiver werden, laufen und sprechen können, in den Kindergarten oder zur Schule gehen oder wo auch immer im Leben gerade stehen, dann werden wir immer häufiger bewusst mit den Bewertungen der Erwachsenen bzw. der Gesellschaft konfrontiert. Wir sind zu laut oder zu leise, zu wild oder zu ruhig, zu wütend, zu weinerlich, zu schüchtern, zu aggressiv, zu emotional, zu aufbrausend, zu egoistisch, zu rechthaberisch, zu unartig, zu unsportlich, zu untalentiert, zu faul, zu exzentrisch, zu kränklich, zu fordernd, zu bestimmt. Die Auflistung ließe sind sicherlich unendlich fortführen. Wir sind irgendwie immer zu viel oder zu wenig von was auch immer für unsere Umwelt, für unsere Eltern, Erzieher, Lehrer, Ausbilder, Vorgesetzte, Kollegen, Freunde, Partner etc. Wir entsprechen selten dem Maßstab den andere uns anlegen, damit es ihnen vermeintlich gut geht, oder wir reif genug sind für Kindergarten, Schule, Ausbildung, Arbeit, Beziehungen, für ein angepasstes Leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft wo eigenständiges Denken, Individualität, Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Kreativität keinen Platz haben. Kein Wunder, dass auch wir irgendwann, meist auch schon im Kindesalter, anfangen andere zu bewerten.
Zu Recht werden jetzt vielleicht einigen denken, dass es doch aber Bewertungen gibt, die wichtig sind, so wie z.B., wenn es um die Einschätzung der Gesundheit geht. Man muss doch wissen, ob jemand gesund oder krank ist oder ob bestimmte Werte im Normalbereich liegen, damit man anderenfalls die nötigen Schritte einleiten kann. Es geht mir nicht darum Bewertungen per se als schlecht zu beurteilen (ist auch wieder nur eine Bewertung) und sie grundsätzlich zu unterlassen. Aber ich finde es wichtig, sich mehr und mehr bewusst zu machen, in welchen Situationen, bei welchen Menschen wir tagtäglich mit Bewertungen in Berührung kommen, wann wir sie ausüben und wann wir sie bekommen.
Und was z.B. die vielleicht sinnvollen Bewertungen im gesundheitlichen Bereich angeht, möchte ich dich an einer sehr persönlichen Bewertung teilhaben lassen. Bevor ich vor 8 Jahren Mutter geworden bin, wurde mir gesagt, dass es für mich aufgrund eines hormonellen Wertes, welcher deutlich über dem Normbereich liegt, schwierig werden wird, schwanger zu werden und dass ich mich darauf einstellen soll, dass es länger dauern wird. Anders als ich es heute tun würde, habe ich es damals nicht hinterfragt, für mich war es einmal so diagnostiziert Gesetz. Tja, meinem Körper bzw. meiner Seele und der Seele meines Sohnes war es aber schnurzpiepsegal (ich guck jetzt nicht ob es das Wort so gibt). Nach 2 Monaten war ich schwanger. Doch die Bewertungen, die Vorstellungen der Ärzte hatten sich so in meinem Kopf eingebrannt, dass ich gefangen und nicht in der Lage war, meinem Bauchgefühl zu vertrauen. Im Nachhinein wurde mir klar, dass es so viele Anzeichen gab, die ich gefühlt habe. Aber ich habe sie weggeschoben, im tiefen Glauben, dass nicht sein kann, was nicht für möglich gehalten wird. Und so hat es 9 Wochen gedauert bis ich erfahren habe, dass ich Mutter werde. Normalerweise bin ich überzeugt davon, dass wir mit unserem Glauben, mit unserer Vorstellungskraft und unseren Gefühlen unsere Realität erschaffen. Umso überraschter bin ich im Nachhinein gewesen, dass ich mir einen Zustand erschafft habe, an den ich so selbst nicht geglaubt habe. Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel bzw. hat mein Sohn es für sehr wichtig gehalten, mich zu begleiten und zu unterstützen. Denn ohne meine Kinder, die tagtäglich mein Spiegel sind, wäre ich heute nicht da wo ich bin, würde ich mich nicht regelmäßig hinterfragen, neu entdecken, lieben und leiden und mich dabei täglich weiterentwickeln. Dann gäbe es jetzt wahrscheinlich auch diesen Artikel nicht.
Ich bin ein wenig vom Thema abgekommen.
Wir sind also gefangen in den Vorstellungen wie andere, insbesondere unsere Kinder, Freunde, unser Partner etc. zu sein haben, damit es uns damit gut geht, damit es sich richtig anfühlt, damit wir den anderen als richtig und gut so empfinden können. Dabei sind wir so oft dem Irrglauben ausgesetzt, dass unsere Vorstellungen, unsere Bewertungen uns dienlich sind, uns Orientierung bieten, uns eine Richtung vorgeben. Und ja das tun sie. Aber halt eine sehr einseitige und einschränkende Richtung. Was passiert, wenn wir etwas oder jemanden als nicht gut oder wie auch immer bewerten? Nach dieser Bewertung im Kopf folgt das entsprechende Gefühl, welches uns dann auch nicht gut fühlen lässt. Die Konsequenz ist immer, dass wir diesen Zustand verändern möchten. Das ist nur zu verständlich. Und es geht auch nicht darum, in Situationen zu verharren, die uns nicht guttun oder uns mit Menschen zu umgeben, die uns schaden. Wir müssen auch nichts schönreden oder schöndenken. Und natürlich dürfen und sollten wir offen über unsere Gefühle, über das was uns verletzt und was wir uns wünschen, reden. Aber wir sollten auch nicht das machen, was für die meisten von uns am naheliegendsten ist: erwarten, dass unsere Mitmenschen, unsere Kinder, unser Partner, die Freunde, sich ändern, damit wir uns wieder wohl fühlen.
„Wir benutzen die Menschen unseres Umfeldes häufig, um nicht bei uns selbst hinzuschauen und glauben, wenn der andere sich ändere, ginge es uns besser. Dies ist ein Irrtum. Durch das ‘Den-Anderen-ändern-Wollen‘ verhindern wir, dass wir selbst etwas in uns verändern.“ (Robert Betz)
Vielleicht denkst du jetzt, warum soll ich in mir etwas verändern? Der andere hat sich doch falsch verhalten, der andere hat mich verletzt. Das was ich erwarte oder mir wünsche ist doch etwas ganz Selbstverständliches, so etwas kann man doch wohl erwarten. Ja das mag sein, vielleicht hat der andere auch etwas ganz Schlimmes gemacht, was es auch nicht gut zu heißen gilt. Wir haben jederzeit das Recht aus Situationen, die uns schaden rauszugehen oder uns von Menschen zu distanzieren, die uns dauerhaft nicht guttun. Damit übernehmen wir Verantwortung für uns und unser Wohlergehen.
Dennoch sollten wir es nicht versäumen, uns, unsere Gefühle, die Situation zu hinterfragen. Was genau wurde da in mir durch den anderen berührt? Warum konnte mich der andere verletzen? Der andere und sein Verhalten sind selten der Grund, aber meistens der Auslöser. Der andere kann in uns nur das berühren, was schon längst da ist. Der alte Schmerz, meist in unserer Kindheit entstanden, wird angetriggert. Diese alten Wunden dürfen wir in uns heilen. Dadurch werden wir vielleicht nicht automatisch das Verhalten der anderen auf einmal gut finden und ihnen auf die Schulter klopfen, aber durch die Heilung in uns, können wir zu einer anderen inneren Haltung gelangen. Eine Haltung die sowohl uns selbst als auch anderen gegenüber von Wohlwollen, Akzeptanz und Verständnis geprägt ist. Das ermöglicht dann eine neue Sichtweise auf die Dinge und die Menschen. Eine Sichtweise, die es zulässt, dass der andere so ist wie er ist, ohne dass er sich verändern muss und vielleicht auch ohne, dass es uns damit schlecht geht. Und sollte es uns dennoch nicht gut gehen, haben wir natürlich jederzeit das Recht zu gehen. Aber der andere hat das Recht so zu sein wie er ist. Er hat genauso gute Gründe, dass er so ist wie er ist, so wie auch du.
Theoretisch mache ich mir das alles schon seit längerer Zeit mehr und mehr bewusst. Aber wie das so mit der grauen Theorie ist, sie kann mir nicht annähernd das vermitteln, was ich durch die Praxis, durch das Erleben erfahren kann. Und so kam es, dass ich in den letzten Monaten durch eine intensive Freundschaft erleben durfte, wovon ich hier jetzt schreibe. In dieser Freundschaft wurde mir ganz deutlich der Spiegel vorgehalten. Ich durfte meinen alten Schmerz fühlen, durfte mir bewusst machen was oder wer ich bin und in Zukunft sein möchte und ich durfte erkennen, dass all die Gefühle die durch das Verhalten des anderen bei mir ausgelöst wurden, ich ebenso in der Lage bin bei anderen auszulösen. Ich bin Opfer und Täter zugleich. Auch wenn ich diese beiden Wörter nicht sonderlich mag und ich weder das eine noch das andere sein möchte, sondern eher Schöpfer meines Lebens, so treffen sie es doch recht gut.
Ich habe es zu fühlen bekommen, den Erwartungen des anderen nicht gerecht zu werden und mich dadurch nicht gut genug zu fühlen. Ich habe erlebt, wie ohnmächtig ich mich fühlen kann, wenn ich versuche mein Bestes zu geben und erkennen muss, dass auch das nicht ausreicht, um den anderen zufrieden zu stellen. Ich bin so wie auch schon in Kindertagen damit konfrontiert wurden, dass es dem anderen wegen mir nicht gut geht. All das, was sich da gezeigt hat, sind meine Elternthemen, mein alter Schmerz, der dort berührt wurde. Den durfte ich mir anschauen, ihn erst mal annehmen, durchfühlen und nun allmählich heilen. Gleichzeitig habe ich die Chance bekommen, mir darüber klar zu werden, was ich möchte und was ich nicht mehr möchte, wer ich bin und wer ich sein möchte, was ich bereit bin zu geben und wie es mit meinen Erwartungen aussieht.
Sicherlich empfindet es nicht jeder gleich und ich kann auch nur für mich sprechen. Ich wünsche mir mehr Begegnungen bzw. Beziehungen, die nicht den gegenseitigen Erwartungen unterliegen. Erwartungen schränken ein, denn sie schließen von vornherein viele Möglichkeiten aus. Sie begrenzen und sie geben dem anderen das Gefühl, nicht richtig zu sein, wenn er sich entgegen der Erwartungen verhält. Erwartungen bzw. unsere konkreten Vorstellungen setzen den anderen unter Druck, lassen ihn dadurch vielleicht auch anders handeln als er sonst in der Lage wäre. Und uns selber täuschen wir damit. Doch jede Täuschung muss früher oder später enttäuscht werden.
Wir denken wir bräuchten Erwartungen, damit wir ein Kriterium haben, anhand dessen wir alles und jeden bemessen. Erwarten bedeutet für mich, dass wir automatisch ins Bewerten kommen. Aber ich muss niemanden und nichts bewerten, um fühlen zu können, ob mir etwas oder jemand guttut oder nicht. Bewerten tut unser Verstand, unser verletztes Ego. Unser Herz bewertet nicht, es fühlt nur. Und einzig allein das sollte ausschlaggebend sein für unsere Haltung zu anderen Menschen oder Situationen.
Erwartungen sind auch etwas ganz Persönliches und haben immer etwas mit unserer Geschichte, mit unseren Erfahrungen zu tun. Wie könnte jemals ein anderer Mensch, der eine andere Geschichte mitbringt und andere Erfahrungen, andere Verletzungen und somit auch andere Erwartungen an sich und andere hat, alle meine Erwartungen erfüllen und mich damit glücklich und zufrieden machen??? Und wie könnte umgekehrt ich jemals alle Erwartungen meiner Mitmenschen erfüllen? Mit dieser Erwartung können wir uns nur selbst enttäuschen. Welch hohe Anforderungen haben wir da an unsere Mitmenschen und selbstverständlich auch an uns.
Solange wir aufgrund unserer Muster und auch unbewusst zugelegten Strategien das Bedürfnis haben, die Erwartungen der anderen zu erfüllen, weil wir uns davon etwas versprechen oder aber Angst haben, etwas oder jemanden zu verlieren, ja solange werden wir selbst auch noch erwartungsvoll den anderen gegenübertreten. Im besten Fall erwarten wir ja schließlich nichts, was wir nicht selbst auch bereit sind zu geben. Im schlimmsten Fall erwarten wir allerdings Dinge, die wir selbst nicht geben können, weder uns noch anderen. Deshalb brauchen wir sie ja auch von anderen.
All das was ich durch die Erwartungshaltung des anderen zu spüren bekommen habe, ist genau das, was ich bei anderen auch praktiziert habe und es noch tue. Das was ich mir von der Person, die mir den Spiegel vorgehalten hat, gewünscht hätte, ist genau das, was ich bei anderen auch nicht in der Lage war zu geben. Gleichzeitig habe ich ganz viel freiwillig gegeben, ohne dass es erwartet oder gefordert wurde. Wenn ich dann aber erwarte, dass der andere es genauso tut, dann habe ich zwar freiwillig gegeben, aber nicht bedingungslos.
Ich erwische mich dabei, die Erwartungen miteinander zu vergleichen und denke, dass im Gegensatz zu den Erwartungen die an mich gestellt wurden, meine Erwartungen doch sicher auch ganz objektiv gesehen nicht zu hoch waren, dass das doch sicher die meisten erwarten würden.
Aber Erwartungen gilt es nicht zu vergleichen, denn Erwartung ist Erwartung. Die Energie dahinter und das Gefühl, was dem anderen vermittelt wird, ist entscheidend. Und das ist immer das gleiche. Ich habe andere genauso fühlen lassen wie ich mich jetzt fühlen durfte. Ich habe dafür nur andere Reize im Außen, andere Menschen benötigt als die anderen durch mich. Und eine Erwartung, die ich für mich als ganz „normal“ bewerte, kann für den anderen schon sehr hoch sein, je nachdem wo er gerade im Leben steht. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen was ein anderer zu tun in der Lage sein müsste, nur weil ich es kann. Ich lebe nicht das Leben des anderen, ich weiß nicht wie er sich fühlt, was für ihn gerade möglich ist.
Das bedeutet nicht automatisch, jedes Verhalten des anderen gut zu heißen und damit zu leben, wenn es nicht dem eigenen Lebensgefühl und der eigenen Wahrheit entspricht bzw. mit unserer Selbstliebe und Selbstfürsorge nicht vereinbar ist. Aber wir sollten nicht erwarten, dass der andere sich für uns verändert. Und erst recht nicht sollten wir es von ihm fordern. Wir haben uns zu verändern und zu heilen, unsere innere Haltung und unsere Sichtweise. Sollte das nicht reichen, können wir immer noch gehen und damit eigenverantwortlich die Situation ändern, ohne dass sich der andere ändern muss. Bei meinen Kindern kann und möchte ich das natürlich nicht. Deshalb sind die Spiegel die wir durch unsere Kinder vorgehalten bekommen, am herausforderndsten.
Ich sage „Danke“ an alle, die mir mit ihren Erwartungen gezeigt haben, was noch in mir geheilt werden darf. „Danke, dass ich durch dich erkennen durfte was nötig war zu erkennen. Danke, dass du mich wieder daran erinnert hast, welchen Weg ich gehen möchte.“
Gleichzeitig möchte ich alle um Verzeihung bitten, denen ich mit meinen Erwartungen das Gefühl des Falschseins gegeben habe. „Es tut mir leid, dass ich dich mit meinen Erwartungen eingeengt habe, dass du dich nicht gut genug gefühlt hast und dass ich dir das Gefühl gegeben habe, du müsstest anders sein als du bist. Du musst gar nichts und ich muss auch gar nichts. Ich weiß, du hast dein Bestes gegeben, so wie auch ich. Wir sind zu jeder Zeit immer so wie wir nur sein können.“
Und natürlich kann das Verständnis und die Akzeptanz des anderen nicht immer darüber hinwegtäuschen, dass sich das Beste des anderen dennoch nicht stimmig und passend für einen selbst anfühlt. Ich glaube die Herausforderung ist es dann, es nicht passend und stimmig machen zu wollen. Und erst recht nicht, indem der andere sich anpasst bzw. verbiegt. Dann passt es noch weniger.
Tja, und was mache ich nun mit meinen Erkenntnissen? Ich spüre, dass ich immer weniger bereit bin, den Erwartungen anderer zu folgen bzw. dass ich mich bewusster hinterfragen möchte warum ich dies tue, wenn ich es tue. Was möchte ich dadurch erreichen oder wovor habe ich Angst?
Auch meine eigenen Erwartungen mir selbst gegenüber, möchte ich nicht mehr erfüllen. Ich möchte mich zunehmend befreien von meinen Vorstellungen, durch welche ich nicht nur mich selbst, sondern letztendlich auch die anderen mit in Gefangenschaft nehme und sie einenge. Ich möchte mich und meine Mitmenschen nicht mehr begrenzen durch die begrenzten Möglichkeiten meiner Vorstellungen. Und nicht zuletzt möchte ich mich noch stärker hinterfragen, wenn ich mich dabei erwische, Erwartungen an andere zu haben. Ich möchte niemanden diesem Gefühl aussetzen.
Ich wünsche mir Begegnungen, Beziehungen, die Raum geben für mehr Möglichkeiten und Richtigkeiten (noch ein Wort was es wahrscheinlich nicht gibt) als sie mir meine Vorstellungen bieten. Ich wünsche mir ein flexibles Miteinander, mit immer weniger MUSS und immer mehr KANN. Ein Miteinander was geprägt ist von Verständnis, Akzeptanz, Selbstreflexion und Eigenverantwortung. Ein Leben ohne Bewertungen, Erwartungen und Maßstäbe. Ein Geben und Nehmen, welches auf natürliche Weise ins Gleichgewicht kommen darf. Kein Geben aus Angst oder einem Mangelgefühl heraus, was dann zum Habenwollen führt. Ein Geben ohne Bedingungen, dafür aber mit ganz viel Vertrauen und Offenheit, die den anderen dazu einlädt oder erst dazu befähigt, genauso bedingungslos zu geben.
Ich komme zurück zu den positiven Vorstellungen oder sollte ich eher sagen Vorfühlungen (schon wieder eine Worterfindung 😉 von mir)
Wie würde es sich anfühlen, wenn wir uns alle wertungsfrei entfalten könnten? Wenn wir uns jederzeit angenommen, akzeptiert und geliebt fühlen? Wenn wir nicht mehr geben, um haben zu wollen? Wenn wir nicht mehr aus Angst, sondern aus Liebe handeln? Wenn wir niemandem und nichts entsprechen müssen und einfach dem folgen, was für uns wahrhaftig ist?
Auch wenn wir alle davon sicher noch weit entfernt sind, so glaube ich daran, dass es möglich ist. Wenn jeder von uns nur einen kleinen Schritt anfängt zu gehen, ist ein Anfang gemacht. Der Rest ergibt sich beim Weitergehen.
Wie geht es dir mit dieser Vorstellung, welche dich nicht gefangen hält, sondern dein Herz weitet und dir Flügel verleihen kann?
In diesem Sinne, wünsche ich dir für dein Leben nur noch einen Maßstab, dein Herz. Und die Antwort auf die Frage „Was würde die Liebe tun?“
Deine Carina